Pippi Langstrumpf und Maude – zwei fiktive Figuren aus Kindheit und Jugend, die mich tief geprägt haben. Als Serien- und Filmheldinnen verkörperten sie auf je eigene Weise Freiheit, Rebellion und Lebenslust. In diesem sehr persönlichen Text reflektiere ich, wie beide – so unterschiedlich sie auch sind – zu inneren Begleiterinnen wurden: Pippi mit ihrer wilden Kraft und kindlichen Anarchie, Maude mit ihrer stillen Weisheit und poetischen Sanftheit. Zwischen beiden Figuren bewegt sich mein Blick auf Identität, Freiheit, Weiblichkeit und die Frage, wie wir uns die Welt (immer wieder) neu machen und aneignen können.
Maude & Pippi: Zwei Pole meiner inneren Welt
Es gibt Lieder, die sind mehr als Melodien. Sie sind Türen zu Erinnerungen, innere Kompassnadeln, kleine Zeitmaschinen. Zwei davon begleiten mich schon seit langem – auch wenn ich erst viel später verstanden habe, dass sie mehr gemeinsam haben – auf vielen Ebenen:
Ich mach mir die Welt – widdewidde wie sie mir gefällt Astrid Lindgren
Sing out loud – Cat Stevens/Yusuf
Als Kind habe ich das Pippi-Lied mit voller Inbrunst gesungen. Es war mein Soundtrack für alles, was wild, frei und ungehorsam war. Pippi Langstrumpf war für mich kein Vorbild im klassischen Sinn – Inspiration, sie war ein Gefühl. Eine Haltung. Eine Kraft, die sagte: Du darfst anders sein. Und zwar laut.
Später, als Teenagerin, zog mich eine andere Stimme in den Bann – weich, warm, melancholisch. Cat Stevens.
„You know it’s up to you, Anything you can do, And if you find a new way –
Well, you can do it today“
war für mich wie ein leiser Aufruf, weiterzugehen, tiefer zu schauen, weicher zu werden. Es war keine kindliche Trotz.Freiheit mehr, sondern eine, die aus Schmerz, Erfahrung und Liebe wuchs.
Damals wusste ich noch nicht, dass Maude (Übrigens: Maude ist eine fiktive Figur aus dem Kultfilm Harold and Maude und dem gleichnamigen Buch, das ich bis heute leider nie gelesen habe) und das Lied „If You Want to Sing Out, Sing Out“ von Cat Stevens ist für mich untrennbar mit ihr verbunden.) genau diese Art von Freiheit lebte – mit einer Sanftheit, die sich nicht mehr beweisen musste. Heute, Jahre später, weiß ich: Maude war meine erwachsene Pippi.
Neulich las ich in dem Buch „Ich mach mir die Welt“ von Harry Gatterer (hier geht’s auch tatsächlich darum mehr Leben ins Leben zu bringen 😉 – wie passend) –
und plötzlich standen Pippi, Maude und ich in einem Raum. Ein Kind mit Zöpfen, eine alte Frau mit Gänseblume und dazwischen mein Leben. Die Erkenntnis traf mich wie ein Ton: Diese beiden Welten sind näher, als ich dachte.
Hier ein Link zum Trailer zu Harold and Maude
und hier ein Link zu einem Ausschnitt auf Youtube von Pipi
Kindsein mit Maude und Pippi
Pippi war laut, wild, schräg. Sie hatte Kraft – körperlich und innerlich. Sie sagte Nein, wenn andere Ja wollten. Sie fragte nicht nach Erlaubnis. Und sie war nie darauf aus, ein Mädchen im klassischen Sinne zu sein. Ihre Zöpfe waren Statement genug. Für mich war sie keine Heldin, weil sie stark war – sondern weil sie nicht aufhörte, sich die Welt selbst zu gestalten. Jeden Tag neu.
Maude kam später – aber rückblickend war sie wie ein stilles Echo von Pippi. Nur: tiefer, leiser, wärmer. Sie rebellierte nicht mehr laut, sondern mit der Geste. Mit einem Lächeln. Mit der Gänseblume in der Faust. Sie war das, was Pippi vielleicht in 60 Jahren hätte werden können. Nicht gebrochen – sondern transformiert. Sie lebte nicht gegen die Gesellschaft, sondern neben ihr – auf eigene Weise. (lustigerweise hat die Schauspielerin auch rote Haare 😉)
Beide Figuren – Pippi Langstrumpf und Maude – lassen sich als gesellschaftliche Außenseiterinnen lesen, aber auf sehr unterschiedliche Weise. Pippi steht am Anfang eines Lebens, Maude am Ende. Beide aber verweigern sich dem, was „normal“ ist: Pippi durch anarchische Lebensfreude, Maude durch stille Widerständigkeit und das bewusste Spiel mit dem Tod.
Gesellschaftlicher Kontext und Rebellion
Pippi und Maude sind – jede für sich- radikale Gegenentwürfe zur Gesellschaft ihrer Zeit. Pippi Langstrumpf, 1945 von Astrid Lindgren in Schweden erschaffen, spielt in einer unmittelbaren Nachkriegswelt, in der Erwachsene meist autoritär, konventionell oder schlicht überfordert erscheinen. In dieser Nachkriegsordnung, die auf Wiederaufbau, Disziplin und Normierung setzt, verkörpert Pippi eine Art kindlichen Anarchismus: Sie verspottet Zwang und Ordnung mit physischer Überlegenheit, frechen Sprüchen und der resoluten Weigerung, zur Schule zu gehen. Ihre Rebellion ist laut, sichtbar und unmittelbar. Als neunjähriges Mädchen lebt sie allein, verwaltet ihr Erbe, besitzt ein Pferd und einen Affen, entscheidet selbst und macht sich buchstäblich „die Welt, wie sie ihr gefällt“. Hier können wir ableiten, dass in einer Gesellschaft, die Kinder dressiert und Autorität betont, radikale Eigenständigkeit als höchster Akt der Freiheit erscheint. (auch in den etlichen Arbeiten gerne nachlesbar – Pipis Bücher gehören zu den meist analysierten Büchern der Kinderliteratur)
Maude hingegen operiert in einer ganz anderen Liga: In dem Film, treffen wir sie in den späten 1960er-Jahren in den USA, mitten im Aufruhr von Vietnamkriegs-Protesten, Hippiebewegung und wachsender Umweltdebatte. Ihre Rebellion ist subversiv, poetisch, zutiefst philosophisch. Sie stiehlt Autos, um sie schnurstracks auf einem Baumarkt-Parkplatz abzustellen, setzt sich mit beherzten Aktionen für Bäume ein und lebt nach eigenen, ästhetisch-moralischen Prinzipien. Diese trägt sie nicht wie ein Banner vor sich her, sondern lässt sie beiläufig erscheinen. Maude versteht Widerstand nicht als polternden Protest, sondern als Lebenskunst: Sie hat die Regeln dieser Gesellschaft – Krieg, Verlust, blinden Gehorsam – durchschaut und transzendiert sie durch eine bewusste Liebe zum Hier und Jetzt. Ihr Weg zeigt, dass in einer Ära, die immer komplexer und entfremdeter wird, Poesie und stille Subversion mächtiger sind als lautstarke Parolen.
Beide Figuren lehnen aus meiner Sicht ihre Umwelt nicht aus Wut ab, sondern aus radikaler Eigenständigkeit: Pippi, indem sie Konventionen kindlich entlarvt und zerlegt; Maude, indem sie sie poetisch überwindet. Aus ihrer zeitlichen Einbettung lässt sich ableiten, dass gesellschaftliche Zwänge – ob Nachkriegsdisziplin oder späte Moderne mit ihren politischen und ökologischen Krisen – stets neue, kreative Formen des Widerstands gebären. Pippi zeigt uns, dass Selbstermächtigung bereits im Spiel beginnt; Maude lehrt uns, dass sie in der bewussten Gestaltung des Alltäglichen und der bewahrten Schönheit nachhaltig wird.
Geschlechterrollen und ihre Auflösung
Pippi war nie nur „das Mädchen“. Sie war Piratin, Hausbesitzerin, Pferdebesiegerin. Sie war das, was der Moment verlangte. In einer Zeit, in der Mädchen angepasst, brav und leise sein sollten, war sie ein Orkan. Sie lerte mich, dass Geschlecht nicht wirklich viel aussagt und auch keine wirklche Rolle in meinem Leben haben muss. Für mich war das nie „feministisch“ im politischen Sinne – auch aus heutiger Sicht – es war schlicht wahr. Pippi hat mir gezeigt, dass es Räume außerhalb von „Mädchenhaftigkeit“ gibt. Und dass diese Räume riesig sind.
Maude wiederum hat Weiblichkeit neu geschrieben. Ihre Sinnlichkeit, ihre Tiefe, ihre zärtliche Wildheit – all das war nicht an Jugend oder Attraktivität gekoppelt. Sie war weiblich auf eine Art, die niemandem gefallen wollte. Frei von Rollen. Sie war sie selbst. Vielleicht sogar mehr sie selbst, gerade weil sie sich keinem Bild mehr anpassen musste.
Aus feministischer Sicht sind beide Figuren radikal in ihrer Eigenständigkeit und in der Weigerung, sich patriarchalen oder normativen Rollenzuschreibungen zu unterwerfen. Pippi tut das durch körperliche Unabhängigkeit und kindliche Autonomie – sie braucht keinen Mann, keine Eltern, keine Schule. Ihre Stärke ist wortwörtlich und symbolisch. Maude hingegen steht für eine vielschichtigere Form feministischer Selbstermächtigung: Sie zeigt, dass Alter nicht bedeutet, leise zu werden; dass Weiblichkeit nicht durch Sexualität oder Mutterrolle definiert sein muss; dass Lebenslust keine Altersgrenze kennt. Sie lebt Sexualität, Kunst, Widerstand, Tod – alles zugleich. Ihre Form von Emanzipation ist spirituell und poetisch.
Und genau dieser Perspektivwechsel – dieses Spannungsfeld zwischen Gegensätzen – bringt für mich Harmonie ins Leben. Gerade darin liegt für mich Kohärenz: Ich muss mich nicht entscheiden, nicht entweder-oder sein. Ich darf das leben, was in dem Moment, in der Situation und in meiner aktuellen Lebensrealität stimmig ist.
Deshalb definiere ich mich nur selten ausschließlich als Frau und doch möchte ich, wenn es für mich passt, genau das mit voller Sinnlichkeit ausdrücken. Egal ob in jungen oder alten Jahren. Vielleicht bin ich dann mal eher eine Piratin im Oma-Alter, ein andermal die Oberstudienrätin, die lachend durch Regenpfützen tanzt und vielleicht auch eben mal einfach eine denkende Person, die über irgendwas philosoophiert.
Neugier und Weltaneignung
Sowohl Pippi Langstrumpf als auch Maude eint eine zutiefst radikale Neugier, doch sie lebt in ihnen auf ganz unterschiedliche Weise. Pippi stürzt sich mit lautem Aufschrei ins Abenteuer: Sie klettert aufs Dach, misst ihre Kräfte mit Erwachsenen und erfindet neue Spiele, einfach weil sie die pure Freude an der Bewegung sucht. Ihre Neugier ist Aktion, pure Lebendigkeit – kreativ, überschäumend und wild. Sie probiert aus, erkundet jeden Winkel ihrer Welt und zeigt uns, dass Neugier vor allem ein unbändiger Drang nach unmittelbarer Erfahrung ist.
Maude dagegen begeht die Welt mit leisem Staunen. Ihr Ergründen läuft nicht über das Ausprobieren, sondern über das genaue Hinhören und Nachdenken. Sie stellt Fragen, die unter die Oberfläche führen, und schenkt Menschen und Natur dieselbe empathische Aufmerksamkeit. Maudes Neugier ist tiefgründig, philosophisch und achtsam; sie schafft Räume, in denen sich das Neue ganz von selbst offenbart. Während Pippi lautstark Grenzen überschreitet, gleitet Maude mit sanfter Entschlossenheit durch das Leben und zeigt uns, dass echte Entdeckung manchmal jenseits aller Hast liegt.
Und doch teilen beide Figuren einen Blick, der Details wahrnimmt, wo andere nur Alltäglichkeit sehen, sie jedoch Möglichkeitsräume erkennt, die im Gewohnten verborgen bleiben. In ihrer Weigerung, sich dem „man macht das halt so“ zu beugen, lehren sie uns, dass Neugier nicht nur Wissensdurst, sondern der Mut zur Offenheit ist – und dass man, zugleich stark und verletzlich, die Welt immer wieder neu sehen kann.
Fragt man, welche der beiden nun die stärkere Figur ist, muss man Stärke neu definieren: Körperlich mag Pippi überlegen sein, symbolisch teilen sich beide ihren Thron. Existenziell allerdings überragt Maude sie noch – denn sie hat den Tod nicht als Ende, sondern als Bedingung für Intensität angenommen. Ihre Leichtigkeit ist keine kindliche Unschuld, sondern das Ergebnis eines bewussten, durchlebten Lebens; sie ist poetisch-realistisch und zeigt, dass wahre Stärke dort entsteht, wo man Verletzlichkeit zulässt und mit offenem Herzen lebt. So wird uns durch Pippi und Maude vor Augen geführt, dass radikale Neugier in allen Facetten ein Versprechen an uns selbst ist: mit wachem Blick, ungebremster Tatkraft und zärtlichem Verstehen durch die Welt zu gehen.
Zwischen diesen beiden Figuren – da lebe ich
Wenn ich ehrlich bin, will ich bis heute beides sein. Ich will Pippi sein – voller Kraft, Unerschrockenheit und Leichtigkeit. Und ich will Maude sein – voller Sanftheit, Tiefe und unaufdringlicher Weisheit. Vielleicht ist genau das der Grund, warum mich beide nie losgelassen haben: Sie haben mir gezeigt, dass Identität kein starrer Zustand ist, sondern ein ständiges Springen zwischen Möglichkeiten – wild und weise, laut und leise, jung und alt.
Rückblicken glaube ich sagen zu können, dass ich durch Pippi und Maude schon früh die ersten Züge von „Pogofähigkeit“, im Sinne der Kompetenz die Gitta Peyn in ihrem Buch beschreibt, kennen lernen durfte. Die Kompetenz, mit Gesellschaft, Konflikten und Komplexität umzugehen. Beide verfügen über die Fähigkeit, tief zuzuhören und achtsam zu sehen. Maude tut dies in jeder Begegnung, wenn sie aufmerksam schweigt und in den Augen ihres Gegenübers liest. Pippi tut es, indem sie ihrer eigenen Stimme vertraut und dadurch anderen Raum gibt, sich selbst auszuprobieren. Gleichzeitig wissen sie beide, Grenzen zu setzen, wo sie gebraucht werden: Pippi verweigert entschieden die Schulbank, weil sie sich sonst verliert; Maude zieht klare Linien in ihrem frühen Abbruch von Konventionen – nicht aus Trotz, sondern aus Selbstrespekt. Weder Pippi noch Maude malen Konflikte in Schwarz und Weiß, sondern erkennen die Grautöne dazwischen. Sie zeigen mir, dass man bei sich bleiben kann, ohne andere zu bekehren, und dass wahre Überzeugung erst durch das Vorleben von Perspektiven entsteht, nicht durch Predigten. Stets hinterfragen sie das „man macht das halt so“ und eröffnen Möglichkeitsräume, in denen Neues entsteht.
Natürlich ist all das noch sehr vielschichtiger – und lässt sich an vielen Stellen kritisch hinterfragen. Trotzdem möchte ich drei Aspekte ergänzen, die aus meiner Sicht wesentlich sind. Denn auch wenn es sich um fiktive Figuren handelt, sind diese Punkte entscheidend für das Verständnis ihrer Rollen und Persönlichkeiten – sie bilden gewissermaßen die Grundlage für das, was Pippi und Maude überhaupt möglich macht.
- Privilegien und Rahmenbedingungen: Pippis Unabhängigkeit fußt auf ihrem Erbe, Maudes Freiräume auf sozialem und generationsbezogenem Privileg. Ohne diese Voraussetzungen wären ihre Sprünge in neue Lebensentwürfe nicht in gleicher Weise möglich.
- Balance von Bewegung und Verwurzelung: Trotz ihres ständigen Springens bleiben beide in ihren je eigenen Welten verwurzelt – Pippi in ihrer Villa Kunterbunt und ihren Freundinnen Tommy und Annika, Maude in ihren Ritualen und Erinnerungen. Nur weil sie einen sicheren Anker haben, können sie sich mutig in das Unbekannte stürzen.
- Kollektive Dimension und Care: Pogofähigkeit ist kein Solo‑Unternehmen. Pippi kümmert sich um Kinder in ihrer Nachbarschaft, Maude schenkt Harold ungeteilt ihre Zeit. Diese sorgenden Beziehungen sind die Basis dafür, dass beide Figuren überhaupt Kraft zum Springen finden.
All das zusammengenommen zeigt, dass wahre „Pogofähigkeit“ nicht nur im mutigen Wechsel von Perspektiven und Kontexten besteht, sondern in der klugen Verzahnung von Freiheit und Zugehörigkeit, Eigenständigkeit und Fürsorge – und dass Veränderung am stärksten ist, wenn sie nicht allein geschieht.
( mir wichtig zu betonen: Dieser Text ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern eine frei formulierte, persönliche Reflexion. Eine Annäherung, die sich mehr auf innere Resonanz als auf theoretische Stringenz stützt – auch wenn ich Letztere durchaus spannend finde und sie an vielen Stellen reizvoll weitergedacht werden könnte.)
… und dann kam Momo (TBC)
In Teil 2 möchte ich Momo mittanzen lassen‑ und die Perspektive auf Zeit, Zuhören und stille Kraft erweitern.
Schreibe einen Kommentar